Das Jahr der Smartphonekamera

Vor über sechs Wochen schrieb ich das erste Mal einem unserer Kunden: „Handy- und Laptopkamerabilder werden die Ästhetik des Jahres 2020 bestimmen. Es wird das Jahr, in dem eine neue Bildsprache etabliert wird und als authentisch und nicht als amateurhaft wahrgenommen wird.“

von Fabian Birke

30. April 2020

Mit dieser Aussage sollte ich Recht behalten. Mittlerweile haben viele große Marken das kurzzeitig entstandene Kommunikationsvakuum mit einem Film gefüllt. Nike sagt uns, dass 7.8 Milliarden Menschen ihr Workout nach Hause verlegen sollenApple versichert uns, dass die Kreativität auch daheim weitergeht, und REWE bedankt sich für die unzähligen Ideen, die uns durch die Coronazeit bringen – mit der unterschwelligen Bemerkung, dass diese mit Produkten umzusetzen sind, die es im REWE Markt gibt. Die Bildsprache, ein Mix aus rauschenden Handyvideos und hochformatigen Handyfotos, sorgt für eine Nahbarkeit, die ich in der Kommunikation großer Marken schon lange nicht mehr gespürt habe. Die Filme wirken echt und ungestellt. Vermutlich sind sie das zum Großteil auch.

Derweil wurde die Filmindustrie vorübergehend von 100 auf 0 gefahren. Die finanziellen Einschnitte für Fotografen und Filmteams sind enorm. „Alles gecancelt“, erfahre ich kürzlich bei einem Telefonat nach New York. „Cashflow wird knapp“, höre ich aus Boston. Netflix allein stellt insgesamt 150 Millionen Dollar für die Filmindustrie zur Verfügung.

Brauchen wir noch professionelle Fotos und Filme für gute Kommunikation?

Ich glaube, dass 2020 unser Verlangen nach Authentizität stärken wird. Ich glaube aber auch, dass wir der verwackelten Handyvideos schon bald überdrüssig sein werden. Die Not macht erfinderisch – und Rezipienten kulanter. Einstweilen. Aber spätestens beim dritten Tonaussetzer vermisst man den kristallklaren Sound, den ein professionelles Filmteam liefert. Und nachdem man eine Stunde lang auf die immer gleiche Perspektive der Webcam gestarrt hat, merkt man, welche Spannung und Abwechslung verschiedene Kameraperspektiven bringen.

Was bedeuten diese Entwicklungen für uns, Birke und Partner, Studios? Ich glaube, dass man uns in der Welt nach Corona brauchen wird. Mehr denn je. Es bedeutet aber auch, dass wir zusätzlich zu etablierten Prozessen neue Wege beschreiten.

In Zukunft werden wir bei neuen Projekten mehr denn je von Neuem abwägen, welche Art von Film dem Kommunikationsanlass angemessen ist. Dabei werden Fragen aufkommen wie: Ist eine Reise wirklich nötig? Auch die Option „vom Kunden gefilmt, von uns geschnitten“ kann zur echten Alternative werden.

Müssen wir sie umarmen, die computergenerierte Authentizität?

Fakt ist auch, dass künstliche Intelligenz und Datensätze den Independent Film umkrempeln. Auf der Berlinale sagte Kenneth Lonergan (Manchester by the sea): „Jeder Film, den ein Mensch mit Herzblut gemacht hat – sei es nun ein Erfolg oder ein Flop – ist mir lieber als Filme, die in Konferenzräumen nach Kalkül zusammengesetzt werden. Ich habe in solchen Konferenzen gesessen: Diese Diskussionen sind entsetzlich.“

Zurzeit liest man häufig, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird. Wie diese Welt wirklich aussehen wird, weiß niemand. Das gilt auch für die Medienlandschaft. Die Zeit zu Hause wird sicher den einen oder anderen dazu bewegt haben, einen Streamingdienst auszuprobieren. Einige werden auch die Vorzüge des On demand-Contents erkannt haben. Wird das Fernsehen nun noch schneller den Streaming-Anbietern weichen? In Amerika ist dieser Prozess in vollem Gange. Ist das authentischer Content, den man bei Netflix zu sehen bekommt? Fakt ist, dass bereits heute ein Algorithmus bestimmt, was wir vor die Nase gesetzt bekommen. Berechnet durch Verweildauer und zuletzt gesehene Inhalte.

Wir als digital denkende Agentur besitzen diese Datensätze auch, und auch wir werden uns in Zukunft fragen müssen: Hören wir auf unser Bauchgefühl und auf unser Herz oder Vertrauen wir Klickzahlen und Marktanalysen? Ich habe darauf keine eindeutige Antwort. Ich glaube an die Kreativität, die kein Datensatz der Welt ersetzen kann. Und ich glaube auch daran, dass gute Ideen anhand von Datenanalysen erneut evaluiert werden sollten. Spätestens nach der ersten Veröffentlichung.

Corona wird uns noch eine ganze Zeit in Schach halten. Umso mehr freue ich mich auf die Zeit danach. Endlich wieder spüren, wer das Gegenüber wirklich ist. Endlich wieder Empathie zeigen. Endlich wieder ganz nah Geschichten erzählen. Vielleicht auch Ihre?

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