Geschichte ist immer!

Der ursprüngliche Sinn von Jubiläen ist längst verloren gegangen. Trotzdem sollten wir sie unbedingt begehen. Noch besser: Wer seine Geschichte täglich pflegt und strategisch integriert, hat zum runden Geburtstag wirklich allen Grund zu feiern.

von Ralf Birke und Beatrice Vogel

28. Januar 2025

Im Jobeljahr kommen die Widderhörner zum Einsatz. Video KI-generiert.

Wie von Geisterhand geführt, feiern wir im Rhythmus der Jahrzehnte Jubiläum.
Aber warum? Mal überlegen. Weil die Zahl 100 zwei lustige Nullen hat? 
Ist denn die 66 nicht viel hübscher? 
Die 42 nicht vielsagender? 
Wenn eine Dekade vorbei ist, gratulieren wir uns wieder. 
Und weil es so schön ist, setzen wir auch den dazwischen liegenden Quinten ein feierliches Krönchen auf. 
Wir könnten doch auch im Oktavsystem jubilieren.
„Wir feiern 48. Jubiläum.“ 
„Unser Start-up ist jetzt volljährig.“ 
Warum auch nicht? 
Ach, es gäbe so viele Zahlenspiele, aber nein, die 50 und ihre Deklination soll es sein. Nun gut. Aber warum denken wir so?

Das Jobeljahr ist ein Erlassjahr

Es dröhnt aus den Hohlräumen eines Widdergehörns in unsere Kulturgeschichte. In die ebenso hohlen wie kühn geschwungenen Hörner wurde geblasen, wenn sich ein besonderer Anlass jährte: Nach sieben mal sieben Jahren – also im fünfzigsten Jahr – durfte ein „Erlassjahr“ gefeiert werden. So ist es im jüdischen Glauben und in der Bibel überliefert. Die Hörner wie auch das Tier selbst hieß man „Jobel“.

Und weil Bibelfestigkeit und die verständliche Auslegung der Bibel nicht mehr selbstverständlich sind, sei an dieser Stelle der Koblenzer Historiker Achim Landwehr bemüht, der dazu schreibt: „In einem Jobeljahr sollten alle zu ihren Sippen und ihrem Grundbesitz zurückkehren, Sklaven sollten freigelassen, Äcker nicht bestellt und verpfändetes Land zurückgegeben werden (3. Buch Mose 25, 8–55).“ Grund zum Feiern also für alle Geknechteten, Schuldner und Sünder.

Vom Ablass zum Anlass

Schuld und Sühne, Vergebung und Rituale – solcherlei Anlassgepränge wirkt heute aus der Zeit gefallen. Aber es ist der Boden, auf dem in weiten Teilen der Welt die ritualisierte Jubiläumskultur fußt. Denn über die Jahrhunderte verband sich der „Jobel“ mit dem lateinischen „iubilare“ (jauchzen, sich freuen) – woraus schließlich der Begriff „Jubiläum“ entstand. 

Die römische Papstkirche unter Bonifatius VIII. modifizierte den ursprünglich jüdischen Brauch und den entsprechenden Rhythmus nach ihren Vorstellungen: Als neuer Fixpunkt im Ablasskalender wurde das Jahr 1300 zum „Heiligen Jahr“ erklärt. Weitere solcher Jahre sollten alle 100, später alle 50 Jahre stattfinden. Und wohl weil es so gut lief mit der organisierten Vergebung (und den damit verbundenen Einnahmen für die Kirche) wurde der Rhythmus schon zwei Zentennien später auf 25 Jahre verkürzt. 

Dem einst kulturgeschichtlich begründbaren Rhythmus wurde damit der Boden entzogen. Der Historiker Achim Landwehr schließt: „Neben die Aufhebung der Zeit, die Vergebung der Sünden und die runde Zahl trat nun auch die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit.“ Vom Ablass blieb der Kommerz, von den Sünden die Fete.

Langsam sickert die Erkenntnis in die Unternehmenswelt, dass die Geschichte mehr hergibt, als nur einen oberflächlichen Grund zu feiern.

Die eigene Genese ehrlich betrachtet 

Langsam sickert die Erkenntnis in die Unternehmenswelt, dass die Geschichte mehr hergibt, als nur einen oberflächlichen Grund zu feiern: der unverstellte Blick, die offene Auseinandersetzung auch mit Krisen und Verfehlungen, ein versöhnliches Augenzwinkern für die Verirrungen auf dem Weg in die Gegenwart. Die eigene Genese ehrlich betrachtet. Echte Emotionen, ein bisschen Gänsehaut. Und das Gefühl der Mitarbeitenden: Wir waren dabei, wir haben das gemeinsam geschafft. 

Heute liegen die Gründe zum Feiern längst nicht mehr im Erlass von Schulden und Sünden. Dafür muss ein Unternehmen Tag für Tag schon selbst sorgen. Aus Sicht der Kommunikation liefert die Unternehmensgeschichte ohnehin weit mehr als ein paar Jubeldaten. Denn, ob man will oder nicht: Geschichte wird jeden Tag geschrieben. Auch wenn es Mut braucht: Erfolge wie Krisen lassen sich abseits von Jubiläen nach innen offen diskutieren und nach außen konstruktiv kommunizieren. So gestalten Unternehmen ihre vermeintlichen Angriffsflächen selbst und machen Schwächen zur Stärke.

Mit Jubiläen die Zeit dazwischen besser verstehen

Wer seine Geschichte kontinuierlich sorgsam und überlegt behandelt, hat anlässlich eines runden Geburtstags wirklich allen Grund zum Feiern. Zwar ist die Beschäftigung mit Entwicklungen, Vergangenheiten und Zukünften im Tagesgeschäft aufwendig. Aber ist es nicht sehr viel umständlicher, sich in wiederkehrend umkrempelnden Managementprozessen immer wieder sortieren zu müssen? Change ist immer, nicht nur, wenn es nicht mehr anders geht – oder äußere Umstände dazu zwingen. Eine fundierte Betrachtung hilft sehr dabei, diese Strukturen sichtbar zu machen. Die Integration von Corporate History ist Ausdruck von Kultur, Kompass für die Markenführung und dauerhafte Motivation, aus Rückschlägen stärker hervorzugehen. Wird es zum Bestandteil von Unternehmensstrategie, nennen wir das Heritage Management.

Geburtstags-Events machen dabei nicht nur Spaß, sondern helfen auch, Entwicklungen und Entscheidungen positiv zu verankern. Wir brauchen Jubiläen also auch, um die Zeit dazwischen besser verstehen und somit nutzen zu können. 

Dieser Text stammt aus unserem Lookbook „celebrating history.