Who cares? We do!

Ein Reisebericht zur re:publica Berlin 2024. Oder: Wie steht es um das Leben in der emanzipatorischen (digitalen) Gesellschaft?

von Pedro Stöhr

11. Juni 2024

Sonntag, 26. Mai 2024. Bamberg, Hauptbahnhof. Kurz nach neun Uhr morgens. Meine Begleitung und ich stehen am Gleis, wir nippen an unseren Kaffeebechern und warten auf die Einfahrt des Zugs. Zwei Rucksäcke. Zwei Trolleys. Reisen mit leichtem Gepäck. Ziel Berlin, die re:publica 2024.

re:publica. Konferenz zur digitalen Gesellschaft, Netzkultur, Netzpolitik, Weblogs und weiteren sozialen Medien. So zu lesen bei Wikipedia. Für mich ist die re:publica vor allem anderen ein Realitätsabgleich; ein „State of the Union“, wenn man so möchte. Wie ist die Lage da draußen? Im Internet und überall dort, wo Digitales auf die wirkliche Welt trifft.

Doch eins nach dem andern.

Mikromobil durch Berlin

Montag, 27. Mai 2024. Berlin, Checkpoint Charlie. Nach einer stressfreien Anreise starten wir motiviert in den Tag. Für die ca. 2,5 Kilometer zum Veranstaltungsgelände haben wir uns für E-Scooter entschieden. Mikromobilität nennt man das. Und neben dem angenehmen Fahrtwind bei schönem Wetter, sparen wir damit 75 % CO2 gegenüber einer Fahrt mit dem Auto ein. Gut zwanzig Minuten später erreichen wir die Station Berlin. Lange Besucherschlangen, denen man aber aufgrund des schnellen Check-ins (dank digitalen Tickets) beim Dahinschmelzen zusehen kann.

Die Besucherstruktur empfinde ich als sehr angenehm. Anders als bei anderen Veranstaltungen zum Themenfeld „Online“ finden sich hier weniger „Rockstars“ und „Marktschreier“. Vielmehr treffen und erleben wir Menschen, die es kümmert.

re:publica 2024 - Station Berlin

Auf dem Gelände ein kurzes Orientieren: Catering, kostenlose Wasserstation, Toiletten, W-LAN. Check. Damit steht dem Opening auf Stage 1 nichts mehr im Wege. Die Veranstalter begrüßen die aus den Nähten platzende Halle und wünschen eine großartige re:publica Berlin 2024. Die achtzehnte Ausgabe übrigens. Es folgt Applaus.

Die Qual der Wahl

Zum Glück haben wir uns bereits im Vorfeld unser Tagesprogramm via re:publica App zusammengestellt. Die Auswahl an knapp 900 Sessions kann sonst etwas von … nun, erschlagend wirken.

Besonders hervorheben möchte ich den Vortrag von Jean Peters (Correctiv) über die Recherche zum „Masterplan der AfD“. Haarsträubend, erschreckend, großartig und unfassbar wichtig. Vollkommen zurecht am Ende mit stehenden Ovationen bedacht.

Das andere große Themenfeld: KI. Natürlich. Wir haben 2024. Gefühlt jedes Unternehmen und jede Behörde setzt darauf. Oder denkt zumindest über eine Nutzung nach. Neben all den schier unbegrenzten Möglichkeiten gab es ernüchternde Untertöne. Wie steht es um das Urheberrecht? Desinformation durch KI-generierte Inhalte? Frühwarnsysteme bei Katastrophen? Grenzschutz?

„Welcome to peak cynicism“, wie Matthias Spielkamp (AlgorithmWatch) so schön in seinem Vortrag sagt. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem KI angepriesen wird, um die Schäden des eigenen Ressourcenhungers zu verwalten, statt sie zu verhindern.

re:publica 24

Ein starker Anfang der Konferenz. Den Rest des Tages wandern wir, unseren Gedanken nachhängend, durch die vielen Stände der Aussteller und genießen die eine oder andere Köstlichkeit. Auch hier ist das Nachhaltigkeitsdenken omnipräsent: ausschließlich vegetarische oder vegane Gerichte und ein Mehrweg-System für Kaffeebecher und sonstiges Geschirr. Und die Möglichkeit sich ein mitgebrachtes Shirt mit re:publica Logo kostenlos bedrucken zu lassen. Keine Überproduktion von Merchandise also. Ein weiterer Lichtblick. Wunderbar.

Inmitten von Katastrophen

Dienstag, 28. Mai 2024. Wir starten Tag 2 mit leichten Nieselregen und Kaffee aus Litergefäßen.

Nach einer amüsant vorgetragenen utopischen Dystopie zu Musks Neuralink unter der Federführung des Zukunftskritikers Uri Aviv treten auf der TINCON Bühne die Gebrüder Semsrott ins Rampenlicht. Arne (Frag den Staat) und Nico berichten von absurden Fahrtkostenzuschüssen des Europaparlaments. Und von ihrem Projekt „Freiheitsfonds“ mit dem Menschen, die aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe wegen Beförderungserschleichung (§ 265a StGB) im Gefängnis sitzen, befreit werden. Zwischenstand: 994 Personen freigekauft. 183 Haftjahre aufgelöst. 878 K Euro investiert. 14,2 M Euro Kosten für den Staat gespart. Hier stelle ich die Frage nach einem flächendeckenden, kostenfreien Nahverkehr. Weil … warum auch nicht?

Einschub: Hier in Erlangen läuft seit Dezember 2023 die Aktion „Kostenlose CityLinie 299“. Sieben Elektrobusse mit 100 % Grünstrom schaffen eine Verbindung zwischen Innenstadt und dem Regionalverkehr. Nachklapp: Inzwischen haben die Erlanger BürgerInnen für den Bau eines der größten Straßenbahnprojekte in Deutschland gestimmt.

re:publica 24 - Mark Benecke im Gespräch mit dem NABU

Es folgt ein kleiner Abstecher von der Straße/Schiene in die Natur. Bei der Podiumsdiskussion „Tatort Naturkrise – das Netzwerk des Lebens“ spricht Kriminalbiologe Mark Benecke zusammen mit dem NABU über den Verlust der Artenvielfalt und warum es nicht reicht, „nur“ die Bienen zu retten.

Und danach wieder zurück auf die Straße: eine zum Bersten gefüllte Stage 2 wartet u. a. auf Harald Lesch (Astrophysiker) und Luisa Neubauer (Fridays for Future). „Terra X Lesch & Co – Klimafreundliche Mobilität, ein Gewinn für alle?“. Wie können wir Fortbewegung neu denken? Und – warum hören wir beim Thema Mobilität immer noch auf Automobil- und Erdölindustrie?

Harald Leschs Fazit soll auch meines sein:

„Im Grunde genommen ist es nur eine Frage, warum wir es nicht tun. […]
Viel Zeit haben wir nicht mehr. Wir müssen uns schon beeilen.“

Wir beschließen den zweiten Tag ebenfalls mit viel Stoff zum Nachdenken, einer rasanten Rollerfahrt zurück und dem einen oder anderen Glas Wein.

TikTok, Lauterbach und Literatur

Mittwoch, 29. Mai 2024. Wir haben uns eingegroovt. Leider ist auch das Veranstaltungsende bereits am Horizont zu erahnen. Aber zuerst folgt ein Tag mit vollem Programm.

Wir starten gleich mit schwerer Kost: Machtmissbrauch in der Musikindustrie. Nachzulesen im neu erschienenen Buch „Row Zero“. Passend dazu empfehle ich die Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Feuerzone“.

Es folgen zwei Sessions zu TikTok. Gleich die erste davon erzeugt bei mir ein Aha-Erlebnis. TikTok ist bei Suchanfragen bei den Generationen Z und Alpha relevanter als Google. Eine kurze Rückfrage bei meinem 16-jährigen Sohn bestätigt das. Gleichzeitig bietet die Plattform ungeahnte Möglichkeiten für Falschinformationen und rechte Propaganda. Ein sehr schmaler Grat.

re:publica 24 - Gesundheitsminister Karl Lauterbach

Es folgt ein Gespräch zwischen Johnny Haeusler und Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Dieser überzeugt mit einem COVID-19-Recap; inklusive Versäumnissen und konkreten Ideen im Falle einer zukünftigen Pandemie. Weitere Themen sind der Ärzte- und Pflegepersonalmangel. Auch hier ruhige Antworten, trotz teilweiser angespannter Fragen aus dem Publikum.

Remigration = Deportation. Punkt. So einfach ist es. Kontext dazu gibt Katharina Nocun in ihrer Session „Die Maschen der Brandstifter“ oder: Wie sprachliche Framings der extremen Rechten langsam in die Mitte der Gesellschaft gesickert sind.

In diesem Zusammenhang lief mir gestern ein Beitrag auf LinkedIn über den Weg. „Neue Narrative“ rief dazu auf, auch am Arbeitsplatz Politik zu thematisieren. Eine Kommentator:in antwortete, dass es sich aufgrund der „guten alten Benimmregeln“ nicht gehöre, darüber zu sprechen. Meine persönliche Meinung dazu ist: Wegsehen ist keine Lösung. Niemals.

Zum Glück gibt es im Anschluss noch eine völlig anders gelagerte Session, was den Blutdruck wieder sinken lässt: „Warum CustomGPTs eine neue, eigenständige Gattung der Literatur sind.“ Der Anwalt und Autor Christian Lange-Hausstein geht auf das grundsätzliche Verständnis ein und warum CustomGPTs und deren Output urheberrechtlichen Schutz genießen sollten. Für mich als Textschaffenden ein interessantes Gedankenspiel.

Und nun … der wortwörtliche Abgesang beim Closing #rp24. Das war die re:publica Berlin 2024. Viele Zahlen (30.000 Besuche an drei Festivaltagen, 880 Sessions mit 1.600 Sprecher:innen aus über 60 Ländern), viel Emotion, Applaus und ein traditionelles und lautstarkes „Bohemian Rhapsody“.

The days after

Es folgt ein geruhsamer Day off mit Besuch meines alten Kiezes im SO 36. Und tags darauf eine entspannte Heimreise mit der Bahn. Gut, in Erfurt stieg dann unter großem Polizeiaufgebot noch die Fußballnationalmannschaft ein. Zwei geblockte Waggons. Sonderhalt in Erlangen. Man kann nicht alles haben.

re:publica 2024 + TINCON

Was bleibt: Starke Eindrücke zu aktuellen Themen. Ernüchternde Erkenntnisse zur politischen Lage und dem Klimawandel. Vielleicht auch ein Hauch Dystopie, wenn man sich die rasante Entwicklung von KI ansieht. Und dennoch – ich sehe in vielen Bereichen Potenzial. Im Agentur-Umfeld und für das eigene Leben.

Abschließend komme ich zurück auf meine Eingangsfrage: Wie steht es um das Leben in der emanzipatorischen (digitalen) Gesellschaft?

Wir befinden uns mehr denn je in Zeiten, die schnelles Handeln erfordern: Nachhaltiger(er) Umgang mit Ressourcen. Egal, ob in den Bereichen Mobilität, Nahrungsmittel, Server-Infrastruktur, Internetnutzung, Druckprodukte etc. Und eine noch konsequentere, demokratische Haltung.

Eine klare Ausformulierung oder sogar einen Punkte-Plan mag ich an dieser Stelle den geneigten Lesenden schuldig bleiben. Man möge es mir verzeihen. Vielleicht gibt es dazu noch einen Nachschlag.

In jedem Fall brauche ich demnächst einen eigenen E-Scooter.

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